Geschichten erzählen ist Wissenstransfer11 min Lesezeit

Es war einmal ein börsennotierter Großkonzern. Kann auch so ein Märchen, eine Mär, ein Minnesang beginnen? Über das Geschichtenerzählen in Unternehmen.

Geschichten erzählen ist eine der ältesten Formen des Wissenstransfers bzw. der Tradierung – wenn nicht die älteste schlechthin. Menschen merken sich Ereignisse einfach und gerne über Geschichten und mentale Bilder, das wusste man schon und gerade eben zu Zeiten, in denen man wenig Geschriebenes in Händen hielt. Denken wir nur zurück an die Aufführungen bei Hof von Tristan & Isolde! Oh weh, welch lebendige Dramen! Gottfried von Straßburg hat später im 13. Jahrhundert diesen Stoff zusammengetragen und in 20.000 Versen aufgeschrieben.

waz aber mîn lesen dô waere Was ich aber dort gelesen habe
von disem senemaere, von dieser Liebesgeschichte
daz lege ich mîner willekür das will ich nun aus freien Stücken
allen edelen herzen vür, allen vornehmen Menschen vorlegen,
daz sî dâ mite unmüezic wesen. damit sie sich daran erfreuen.
ez ist in sêre guot gelesen. Es zu lesen, wird ihnen guttun.
guot? jâ, inneclîche guot. Gut? Ja, überaus gut.

Gottfried von Straßburg: Tristan, ab Vers 167.

Zuhörende können Geschichten leicht folgen und sich mit den stereotypen Heldinnen und Helden identifizieren. Manch eine Geschichte hat eine überraschende Wendung, wie sie auch das Leben oft bereithält. Geschichten dienen der Völkerverständigung, der Veranschaulichung, der Erzählung von Unerzählbarem und dem eleganten Umschiffen kultureller Tabuthemen. Das klingt ja wundervoll, ganz nach der Geschichte der drei kleinen eierlegenden Wollmilchsäue!

Lernende Geschichtsschreiber

Im organisationalen Kontext spricht man von Storytelling, weil das englische Wort einfach lässiger klingt – außerdem hat das Storytelling seinen Ursprung im englischsprachigen Raum. Wenn man lange gräbt, findet man eine der ältesten Erwähnungen, wenn nicht den Ursprung, im Paläozoikum des Internet, nämlich 1997: Im empfehlenswerten Artikel „Learning Histories: A New Tool For Turning Organizational Experience Into Action“ beschreiben Art Kleiner und George Roth vom renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) schon 1997, wie institutionelles Lernen mithilfe von Geschichten unterstützt werden kann. Um Geschichten für Fortschritt nutzbar zu machen, werden die Erfahrungen zu einem bestimmten Erlebnis personalisiert, aber anonymisiert gesammelt und auf 25–100 Seiten zu einer Geschichte verwoben. Sie wird von „learning historians“, externen geschulten UnternehmensberaterInnen und sachkundigen Internen aufgeschrieben – und zwar in zwei Spalten. Im gleichen Schritt wird die Geschichte kontextualisiert, kommentiert, verbunden, reflektiert. Implizites wird hinterfragt, Folgen abgewägt, Perspektiven ausgelotet.

The left-hand column provides commentary, insights, questions, reflections, brought forward by the learning historians.

Die Geschichte bleibt nicht Geschichte, sie wird im Unternehmen dann nicht einfach nur gelesen, sondern erhebt den Anspruch, neue Geschichten anzufachen, Diskussion anzuregen.

Diese Art Geschichten zu erzählen ist alt, aber noch viel älter als 1997: Alte Völker versammelten sich um das Lagerfeuer und erzählten sich Geschichten von Ereignissen, Kriegen, Naturkatastrophen. Ein learning historian, ein Schamane, kommentierte diese Erzählungen, um die Gemeinschaft auf den Pfad der Erkenntnis zu führen. Zentraler Aspekt ist nun dabei, dass zwar ein Erlebnis aus vielen Perspektiven möglicherweise unterschiedlich empfunden, aber über die gemeinsame Erzählung eine geteilte Bedeutung hergestellt wird.

Nun, hat sich seit damals, seit 1997 und seit jeher, wirklich viel verändert?

Eine gute Geschichte ist eine coole Story

Schön ist auch, dass im Englischen heute zwischen story und history unterschieden wird, im Deutschen aber zu Geschichte verschmilzt.

Die Geschichte des Wortes Geschichte selbst liest sich im digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache wie folgt:

Geschichte f. ‘Ereignis, Erzählung, Wissenschaft von der Entwicklung der Gesellschaft und Natur in der Vergangenheit’, ahd. giskiht (um 1000), mhd. geschiht ‘Geschehen, Ereignis, Zufall, Umstände’, mhd. auch ‘(göttliche) Schickung, Folge der Ereignisse, Angelegenheit, Eigenschaft, Art und Weise’, […]. Seit dem 16. Jh. steht es für eine ‘mündliche oder schriftliche Erzählung von etw. Geschehenem oder Erdachtem’. Neben das endungslose Fem. mhd. geschiht (s. oben) stellt sich im 13. Jh. ein Neutrum mhd. (md.) geschicht(e) (vgl. mnd. geschicht(e) f. n.). […] 

Quelle: DWDS, leicht abgeändert und gekürzt

Beide aber nun, Geschichte und Story, fokussieren auf die Notwendigkeit, zu erzählen, anstatt einfach nur zu sprechen, anstatt nur aufzuzählen. Etwas zu verpacken, als einfach nur etwas zu sagen. Eine Pointe aufzubauen, eine Moral, ein Ende der Geschichte zu definieren. Im institutionellen Kontext macht das nun nicht einer alleine, sondern alle zusammen. Das Ende der Geschichte wird gemeinsam erzählt.

Lerngeschichten funktionieren im Business-Kontext aus folgenden Gründen (vgl. Kleiner/Roth):

  1. Sie bauen Vertrauen auf.
  2. Sie bewältigen Unaussprechliches.
  3. Wissenstransfer auf andere Unternehmen wird begünstigt (besser als Lessons Learned liefern Lerngeschichten Hintergründe und Motive).
  4. Lerngeschichten kreieren Wissen über Erfolgsmethoden im Management.

Geschichtenerzählen in Organisationen heute

Die Methode des Geschichtenerzählens ist eine sehr starke im Kontext organisationalen Lernens. Heute findet sich die Grundidee in vielen Methoden etwas abgewandelt wieder.

  • Der Anecdote Circle ist eine Methode, in der sich Menschen im Sesselkreis ihre Version einer Geschichte erzählen, um der Wahrheit ein kleines Stückchen näher zu kommen. Schön ist hier, dass neben dem Story telling auch das Story listening (Callahan, Rixon, Schenk) stark zum Tragen kommt.
  • Beim Storyboarding werden die Einzelschritte bis zum Wunschzustand in einer comicartigen Geschichte gemeinsam aufgeschrieben. Dabei geht es natürlich nicht um Zeichenkünste, sondern um die Visualisierung des Wegs hin zur Vision. (aus: Gamestorming)
  • Beim Zeitstrahl wird die Geschichte eines Unternehmens von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern spielerisch und bebildert aufgezeichnet. Dabei finden Erfolge, Umstrukturierungen, Marktentwicklungen, große Projekte ebenso Eingang wie auch „softere“ Ereignisse rund um Führungsstil und Unternehmenskultur. Auch der Ausblick in die Zukunft hat Platz.
  • In der Mitbringstunde oder „Show & Tell“ erzählt man die Geschichte zu einem mitgebrachten Gegenstand. Im Unternehmenskontext sind das natürlich eher keine Stofftiere, sondern Gegenstände, die die eigene Haltung zu einer Problemsituation unterstreichen oder sich zur Situation anderweitig in Beziehung setzen. Die Kraft der Metaphern und Assoziationen wird hier genutzt, um einen neuen Blickwinkel auf eingefahrene Situationen zu bekommen. Damit das funktioniert, ist Ehrlichkeit wichtig, außerdem sollten nicht die Gegenstände überanalysiert werden, sondern der Bezug zum Thema ist wichtig.

Die Methode „Lagerfeuer“ hat Christoph Windisch in seinem Blogbeitrag beschrieben. (Bis auf Anecdote Circle sind alle erwähnten Methoden aus Gamestorming.)

Mini-Stories

Mini-Stories werden an vielen unterschiedlichen Stellen (bewusst) eingesetzt: in Social Media wie Twitter und Instagram, in Testimonials, in kurzen Case Stories, im Elevator Pitch.

Absolut schöne Kulturgeschichten brachte Sascha Lobos Kolumne „Wortschatz“ im NEON (hier in Buchform), die aus zwei Wörtern ein neues formte und dabei ganze Geschichten erzählte.

Nicht minder unterhaltsam war die Kolumne „Hauptsatz“ von Max Scharnigg auf jetzt.de (hier in Buchform). Lauter schöne Sätze, bereits Geschichten für sich.

Wem diese Dinge zu kleinteilig wären, der oder die lese doch bitte Stephen Hawking’s „kürzeste Geschichte der Zeit“.

Die kürzeste Geschichte der Welt stammt vielleicht von Ernest Hemingway:

Ernest Hemingway – die kürzteste Geschichte
Ernest Hemingway – die kürzeste Geschichte, Quelle: Wolfgang Stock, hemingwayswelt.de

Noch Kürzeres gibt es in Initiativen wie den Einwortgedichten, einer unterhaltsamen Facebook-Gruppe.

Wer schreibt meine Verse?

Ich habe mich gefragt, wo in meinem Umfeld nun Geschichten erzählt werden. Wo komme ich Geschichten näher, wo erzähle ich selbst Geschichten? Welche Geschichten erzähle ich weiter, welche baue ich um und aus? Ist es wichtig, dass Geschichten wahr und wahrhaftig sind? Ist es wichtig, wer sie wann wo wem wie erzählt?

Was Geschichten stark macht ist ihre Kunst, Worte zu Bildern zu machen. Durch die Worte in Geschichten entstehen Bilder und Filme im Kopf. Deshalb habe ich mich den Gedanken rund um Geschichten auch in Bildern genähert. Die Bilder selbst sind im Grunde austauschbar, denn was zählt, ist die Interpretation, die Geschichte dazu, das, was wir mit den Bildern verbinden. Meine Wissenslandkarte zum Thema Geschichten erzählen ist nun also ohne Beschriftung nicht so einfach zu verstehen. Man kann sie nicht so lesen, wie ich sie geschrieben habe. Man braucht die Person, die die Geschichte dazu erzählt. (Auch wenn ich es selbstverständlich reizvoll finde, mir vorzustellen, wie jemand anders eine neue Geschichte dazu erfindet.) Möglicherweise ist die Wissenlandkarte dann keine sinnvolle mehr, wenn sie der Kommunikation nicht dient. Doch im Ausloten der Methode erlaube ich mir ein Abweichen von den Erwartungen.

Hier kommt meine kleine Geschichte darüber, wo ich in meinem Umfeld Geschichten orte, wo über Geschichten Wissen transportiert wird.

Krone, Unsplash
Quelle: Unsplash, Ashton Mullins, CC0

Die Heldin ist in dieser Geschichte eine Prinzessin, auf die Erbse gekommen, wohlgemerkt. Auf 7 Matratzen hat sie schon geschlafen, noch nirgendwo sesshaft geworden. Die eigene Geschichte ist eine von Umzügen und Schnellzügen.

Quelle: Unsplash, Niko Benedickt

Schlösser sind kalt und unwirtlich, aber das Leben ist eben nicht immer einfach! Den tollen Rundumausblick gibt es nur von oben, oft nur durch einen beschwerlichen Aufstieg zu erreichen. Nach oben hin wird die Luft dünn! Und manch eine stößt an eine gläserne Luftschlossdecke. Wer durch Wald und Wiesen zieht, tut dies am besten nicht alleine. Zumindest erzählt man sich darüber wilde Geschichten, wenn der Winter lang ist.

Quelle: Unsplash, Park Troopers

Feste wollen gefeiert werden, wie sie fallen. Denn daran erinnert man sich später, davon kann man erzählen! Markante, einschneidende Ereignisse bleiben länger im Gedächtnis. Bei einem Fest vergeht die Zeit schneller und man erzählt sich Neuigkeiten aus dem Königreich.

Quelle: Unsplash, Thomas Kelley

Ein Luftschloss, schwebend, fliegend, das wärs! Mit 200 Sachen durch das Königreich geflitzt! Eine innovative Luftkutsche! – Geschichten erzählen nicht nur aus der Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft: Die Entwicklung von Visionen und Utopien durch Geschichtenerzählen ist ebenso bedeutsam.

Quelle: Unsplash, Alex Krivec

Spiegelung und Ähnlichkeit, Differenzierung und Abgrenzung: durch Geschichten werden Grenzen wahrnehmbarer, Gefüge spürbarer, Dynamiken erlebbarer. Wir brauchen einfaches Schubladendenken, um uns in der Welt einzuordnen – und gleich darauf wieder zu differenzieren. Geschichten mit einfachen Handlungsfiguren helfen uns in der Einordnung. Über die Identifikation mit den Heldinnen und Helden können wir eigenes und fremdes Verhalten besser verstehen.

der Querufant in der Geschichte
Hühner, (c) Sabine Melnicki

Auch Klatsch und Tratsch gehört zu den Geschichten – manche sog. „Wahrheiten“ sind verbogen, erfunden. Wie lässt sich die Wahrheit einer Geschichte wasserdicht prüfen? Nicht immer ist das möglich, aber es ist auch nicht relevant: Geschichten fungieren als Platzhalter, als Gerüst für Prozesse, Beziehungen, Entwicklungen, Ergebnisse. Das Gerüst stützt den eigenen Prozess, das eigene Anliegen, bis es nicht mehr benötigt wird. Ob die Geschichte wahr ist oder nicht, spielt keine Rolle, wenn sie dem Zweck dient. Das ist nicht immer ein angenehmes Gefühl. Wann haben Sie zuletzt jemandem zugehört und über Ihren eigenen Gedanken die eigentliche Geschichte kurz vergessen?

FH Burgenland, (c) Sabine Melnicki

An der Universität und in der Prinzessinnenwissenschaft haben Geschichten nichts verloren, da geht es nur um Fakten, Fakten, Fakten. Dass die Erde doch keine Kugel ist, zum Beispiel. Dass der Mars kein Planet ist, Wasser bei 10 Grad gefriert und Enten Nudeln fressen. Tristan ist von Goethe, Werther von Schiller und der Ring des Nibelungen von Schubert. In der Wissenschaft darf nichts verwechselt werden!

Qwstion Party (c) Sabine Melnicki
Fliegendes Rotkäppchen beim Vortrag zu Storytelling @ the Backend Talks (c) Sabine Melnicki

Prinzessinnen tanzen wortlos zur Musik – und das ist eine ganz neue Geschichte! Im Paartanz entstehen ganz eigene Dialoge und Dramen, jene, die ohne Worte auskommen. Die Musik hat sich diesen Geschichten verschrieben, der Tanz erzählt sie.

XKCD: Chat Systems. Quelle: xkcd.com/1810/

Wem habe ich das schon erzählt? Wer hat mir neulich–… wo habe ich das nochmal gelesen? In einer Welt mit Mikro-, Makro- und Megainformation merken wir uns nur, was uns berührt, womit wir uns in Verbindung setzen können. Wir sind eng durch Geschichten mit den Menschen um uns herum verbunden, ob uns das lieb ist oder nicht. Im Königreich werden auf allen Kanälen Geschichten erzählt.

Kann der Storch eine Prinzessin nicht nur bringen – sondern auch wieder abholen?

Denn nur eines ist uns allen gleich und allen gewiss:

ich arme, wie hân ich verlorn Ich Arme, wie habe ich verwirkt
mîn êre und mîne triuwe! meine Ehre und meine Treue!
daz ez got iemer riuwe, Daße es Gott erbarmen möge,
daz ich an diese reise ie kam, daß ich je diese Reise antrat,
daz mich der tôt dô niht ennam, daß mich der Tod nicht daran hinderte,
dô ich an diese veige vart auf diese todbringende Fahrt
mit Îsôt ie bescheiden wart! mit Isolde geschickt zu werden!
ouwê Tristan unde Îsôt, Oh weh, Tristan und Isolde,
diz tranc ist iuwer beider tôt!“ dieser Trank ist euer beider Tod!

Brangäne entdeckt, dass Isolde und Tristan den Zaubertrank getrunken haben, weil sie ihn für Wein hielten. Gottfried von Straßburg: Tristan, ab Vers 11698.

—FIN!—

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Zum Weiterlesen:

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2 thoughts on “Geschichten erzählen ist Wissenstransfer11 min Lesezeit

  1. Liebe Sabine,
    du hast mich durch die gelungene Kombination aus Storytelling, Zitaten, Reflexion und Fotos begeistert. Bitte mehr davon!

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