Interview: Mit Lisi Wieser im Gespräch über Kreativität, Innovation und neues Arbeiten.11 min Lesezeit

Synapsen, die knacksen.

ZT Dipl.-Ing. Lisi Wieser ist Architektin und Geschäftsführerin von Architektur für alle und Weissglut. Sie bietet ihre Kreativität in Form von Entwurfskonzepten und Planungsideen zu guter Wohnqualität an. Wir wollten von der Kreativen wissen, was für sie Innovation ist, wie sie auf ihre Ideen kommt und ob man Kreativität lernen kann.

Sabine Melnicki: Was bedeutet für dich Innovation?
Lisi Wieser: Im Moment wird „Innovation“ für sehr viele Dinge verwendet und die Wortbedeutung verschwimmt, der Begriff nutzt sich ab. Innovation hat auch nicht per se etwas mit Kreativität oder Ideen zu tun. Innovation ist, wenn etwas ökonomisch optimiert wird, es ist „neu“ und meistens auch „billiger“. Wenn es teurer wird, ist es nicht innovativ – sondern Luxus.

Wenn es teurer wird, ist es nicht innovativ – sondern Luxus.

Ist Innovation in deiner Arbeit wichtig?
Nun, Innovation hat weniger mit meiner Arbeit zu tun als Kreativität. Kreativität ist zentral, sie bedeutet, Ideen zu entwickeln und etwas neu zu kombinieren. Es kann etwas innovativ sein, ohne kreativ zu sein, und Kreatives muss nicht innovativ sein. Und Kreativität ist nicht Kunst! 

Was braucht es für den Prozess der Ideengenerierung?
Notwendig sind bestimmte Rahmenbedingungen und ein besonderes „Mindset“, also ein bestimmter persönlicher Zugang. Für mich sind das Sicherheit, Freude, Gelassenheit und Ruhe. Und die Abwechslung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, zwischen Fokus und Entspannung.

Man begegnet einem Thema, indem man zuerst Informationen sammelt, Kundenbedürfnisse und Parameter recherchiert. Was kann ich dort bauen, was steht daneben? – um beim Beispiel eines Hauses zu bleiben. Diese Rahmenbedingungen zeichnet und schreibt man in Analysen und Diagrammen auf.

Und dann ist der Kopf voll. Jetzt ist es wichtig, dass man loslässt, richtiggehend vergisst, etwas ganz anderes macht und sich erst mit einem gewissen Abstand wieder an die Sache setzt. Dann ist man frei und kann frei entwerfen.

Kann man diesen kreativen Prozess lernen?
Es geht dabei viel um das Gefühl der Freiheit. Ein Trick ist, über den Tellerrand zu schauen: Schau nie dorthin, wo das Problem liegt – schau auf die andere Seite: Wenn sich der Kunde eine Sauna wünscht, sehe ich mir vorher das Wohnzimmer an. Außerdem hilft es, sich eine andere Grundsituation vorzustellen: Wenn ich nicht für eine reiche Arztfamilie baue, sondern für Asylanten, wie sieht die Situation dann aus? Das befreit gedanklich.

Wenn meine Studierenden an der TU Wien fest stecken, dann leite ich sie an, aus dem Rahmen zu denken. Dazu muss man natürlich erst den eigenen Denkrahmen kennen. Diese unkonventionelle Art, auf Dinge zu sehen, braucht etwas Zeit, bringt aber am Ende immer ein Aha-Erlebnis, das kann ich gut an meinen Studierenden und meinen Kundinnen und Kunden beobachten. Im Englischen gibt es einen noch treffenderen Begriff für dieses Erlebnis: The Eureka Factor.

Wie fühlt sich dieser Moment an?
Manche beschreiben das Bild Ihrer kreativen Prozesse wie den Gang durch einen langen Tunnel, an dessen Ende die Idee steht. Andere müssen durch ein Labyrinth den Ausgang finden. Für mich ist es eher wie ein leerer, schwarzer Raum, den ich langsam fülle.

Zwei Sekunden, bevor eine Idee entsteht, passiert etwas im Gehirn, das kann man physiologisch beobachten. Die Informationen kommen zusammen, das Gehirn brutzelt, fährt hoch und sagt: Aha, das ist es jetzt. Dann kommt der Aha-Moment.

Was hemmt Kreativität?
Eindeutig die Angst. Angst bremst und hemmt Kreativität, weil sie mental blockiert. Für jede Art von Kreativität ist also ein angstfreier Raum nicht nur wichtig, sondern Voraussetzung. Das betrifft auch Gruppen, Unternehmen: Nur in Unternehmen mit offenen Kulturen, in denen Fehler erlaubt sind, ist Kreativität möglich. Kreativität bedeutet hierbei auch, Fehler zu machen, also Dinge zu tun, die später wieder verworfen werden.

Wie schaffst du es für dich, einen angstfreien Raum herzustellen?
Ich muss mich in allen Belangen sicher fühlen: Ich möchte Kundinnen und Kunden, mit denen ich mich gut verstehe, die mich verstehen. Das ist Vertrauenssache. Außerdem brauche ich gewisse monetäre Sicherheit, ich darf mich als Einzelunternehmerin nicht ständig finanziell bedroht fühlen. Und ich brauche zeitliche Freiheit: Ich arbeite nicht gut mit Deadlines, ich glaube einfach nicht daran. Es ist wichtig für mich, die Arbeit liegen lassen zu können, wenn sie es braucht. Wenn ich das nicht mehr tun kann, leidet die Qualität.

Es ist wichtig, die Arbeit liegen lassen zu können, wenn sie es braucht.

Was denkst du über Design Thinking?
Ich bin noch nicht überzeugt. Ich habe selbst schon oft in Gruppen entworfen, auch mit anderen Architektinnen und Architekten gemeinsam, und dabei festgestellt: Die Ideen entstehen nie in der Gruppe. Sie kommen immer von außen, jemand kommt mit einer Idee in die Gruppe. Und Feldstudien und Case Studies sind für mich Teil meiner normalen Recherche – so wie ich Design Thinking also bisher kennengelernt habe, ist es wie gutes Brainstorming.

Vielleicht hilft es anderen, anhand strukturierter Prozesse Ideen zu entwickeln.
Man kann Ideen nicht strukturieren. Man kann versuchen, 4 Leute für eine Stunde in einen Raum zu stecken, aber was ich unter Kreativität verstehe, wird dabei nicht heraus kommen. Ich glaube auch, dass es manchen automatisch leichter fällt als anderen. Was für den einen schon der kreative Boost ist, ist für die andere vielleicht erst der gemächliche Anfang.

Jetzt liegt diese Idee auf dem Tisch. Bewertest du jetzt die Idee?
Das passiert schon im Prozess. „Bewerten“ würde ich es aber nicht nennen, denn das Bewerten gilt es zu vermeiden. Es reicht schon, an der eigenen Aufregung um eine Idee zu erkennen, wie wichtig sie ist.

Man kann schon an der Aufregung um eine Idee erkennen, wie wichtig sie ist.

Dieser Moment, wenn du plötzlich diese eine Idee hast, es macht „Bling!“ – das ist wie ein Kick. Jetzt weißt du, dass es funktioniert, dass es zusammenpasst. Passiert das öfter, erkennt man schneller, wenn eine gute Idee auf dem Tisch liegt. Gleichzeitig sieht man auch schneller, wenn eine Idee einfach nicht gut ist.

Einmal habe ich eine Idee fallen gelassen und sie dem Kunden nicht präsentiert. Am Ende wäre sie aber genau die richtige gewesen. Das passiert mir nicht wieder, weil ich nun weiß, warum ich sie fallen ließ und warum ich sie eigentlich gebraucht hätte. So etwas kann ich nun schon im Vorhinein beurteilen.

Finden deine KundInnen immer dieselben Ideen wie du gut?
Nein, deshalb biete ich auch Entwurfsvarianten an. Meist finden die Kundinnen und Kunden eine Idee fantastisch, bei der sie Geld sparen, das weiß ich schon im Vorhinein. Anders ist es bei der Wohnqualität, hier hat jeder unterschiedliche Vorstellungen. Ich kann nicht in die Menschen hineinsehen, jeder setzt andere Werte für seine Wohnqualität an.

Kennen deine KundInnen die Kriterien, die du an deine Entwürfe stellst?
Ja, meine Kriterien für gute Wohnqualität sind etwa Licht, Sonne und gute Blickverbindungen. Ich kommuniziere meine Kriterien klar, aber wenn jemand andere präferiert, respektiere ich das natürlich.

Denkst du, dass dein Erfolg damit zu tun hat, andere Kriterien an Entwürfe anzusetzen als andere Architekten?
Ich glaube erstens, dass man als Unternehmerin oder Unternehmer authentisch sein muss. Man kann nur gut verkaufen, was man in seiner tiefen Überzeugung mitbringt. Zweitens habe ich das Glück, einen wirtschaftsfeindlichen Beruf auszuüben – Architektinnen und Architekten machen eher keine Werbung, wollen lieber nicht für Private bauen, sondern an die großen Projekte herankommen.

Was stört dich daran?
Nun, dadurch entsteht unrobuste Architektur. Die heutige Zeit der Architektur bringt Modernismus, Minimalismus, die weißen Fassaden etc. Dabei ist jedes Detail immens wichtig, jede kleine Abweichung zerstört die Architektur. Aber in der Realität ist das nun einmal so, am Bau werden Veränderungen vorgenommen und es wird nie zu 100% so umgesetzt, wie die Architektin oder der Architekt es vorschlägt. All diese Feinheiten kann man nur in einem hochbezahlten Projekt umsetzen, in dem die Bauleute komplett die Führung überlassen – also selten. Aber diese Architektur ist nicht robust.

Architektur als Kunst.
In etwa, es geht in diese Richtung. Eine Architektin oder ein Architekt als jemand, der alles bestimmt – das ist nicht mehr zeitgemäß, es passt nicht mehr. Heute ist klar, die klassische Hierarchie-Pyramide greift nicht mehr. Je besser sich HandwerkerInnen und ArchitektInnen verstehen, desto besser funktioniert das Projekt. Es ist ein freundliches Miteinander, das auf Unterstützung und gemeinsame Lösungen abzielt.

Man müsste also Architektur entwerfen, die es verträgt, verändert zu werden, die schöner wird durch Änderungen der Details durch andere. Wenn ich derartige Architektur mache, kann ich die Entwürfe jedem in die Hand geben. Wenn du es loslassen kannst und es wird schön werden, dann hast du gewonnen. Es geht um den Samen der Idee.

Man kann es loslassen und es wird trotzdem schön. Es geht um den Samen der Idee.

Was macht man heute noch anders als früher?
Es gibt etwa diese Baugruppen, wo Menschen, die sich kennen, zusammen Häuser mit 30 Wohnungen bauen. Da geht Bauen in eine andere Richtung, es gibt Gemeinschaftsräume, Gänge, in denen man sich trifft, große Balkone.

Bauplätze für Baugruppen werden mittlerweile von der Stadt Wien gefördert. Man hat erkannt, dass hierdurch Häuser mit besserer Wohnqualität und Gewinnmarge entstehen, als wenn jeder einzeln plant. Bauträger bauen lieber Loggias als Balkone, weil diese zur Grundfläche zählen. Aber wer will eine Loggia? Außerdem prägen Baugruppen den Zusammenhalt und das Zusammenleben einer Familie.

Haben sich die Bedürfnisse geändert?
Ich denke, dass Menschen offener werden und verstehen, dass es andere interessante Lebenskonzepte geben kann. In einer Baugruppe hat man ein tolles Haus und eine tolle Gemeinschaft zu einem guten Preis. Diese Menschen lernen auch einen anderen Umgang in der Gruppe: Mit Schmoll und Streit kommt man nicht weit, man lernt, offen und positiv zu kommunizieren.

Inwieweit lässt sich das auch auf Unternehmen beziehen?
Man kann heute Organisationen führen, in denen ohne Machthierarchie zusammengearbeitet wird. Natürlich muss das Unternehmen Geld verdienen, zu den Kundinnen und Kunden freundlich sein und die Produktqualität muss stimmen. Aber das Wichtigste ist nicht mehr das Geld, sondern die Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sobald diese einen Sinn darin sehen, was sie tun, ist die Arbeitsqualität unvergleichbar hoch. Ich denke, dass es speziell für kreative Unternehmen wichtig ist, so zu Bestleistungen zu gelangen.

Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Belohnungen erhalten, fallen spannenderweise die Ergebnisse deutlich schlechter aus. Der Bonus, der Druck, die Deadline – das nimmt die Lust am Arbeiten.

Der Bonus, der Druck, die Deadline – das nimmt die Lust am Arbeiten.

Es ist daher wichtig, die Menschen zu fördern: Nur wenn sie es selbst wollen, erbringen sie kreative Leistungen.

Das würde bedeuten, es braucht überhaupt keinen Chef? Das ist eine radikale Ansicht.
Natürlich reicht eine flache Hierarchie alleine nicht aus, es müssen gute flexible Strukturen hinter allem stehen, damit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter motiviert bleiben. Diese Strukturen bestehen aus internen Feedbackrunden, Methoden zur Teambildung etc. Jede/r hat volle Verantwortung in seinem Bereich und es steht niemand darüber, die/der die Entscheidungen aushebeln kann – das würde die Motivation killen.

Es gibt bereits viele Unternehmen, die so aufgebaut sind. Und es betrifft zwar nicht nur kreative Unternehmen, ist aber für diese speziell wichtig, da man Kreativität nicht abarbeiten kann. Man bekommt eine Idee oder nicht, kann aber nicht sagen, wenn es nicht klappt, na, dann mache ich es einfach nochmal. Im Ideenbereich ist man also umso mehr gezwungen, gute Rahmenbedingungen zu schaffen.

Der Grundgedanke besteht darin, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht mehr fragen zu müssen, wie man einen Prozess verbessern kann, sondern dass er sich in einem Umfeld weiß, in dem ihre/seine vorgebrachten Verbesserungen umgesetzt werden. Ungeachtet dessen, dass manche davon wieder rückgängig gemacht werden müssen, weil sie nicht klappen. Man muss bereit sein, etwas auszuprobieren.

Man muss bereit sein, etwas auszuprobieren.

Was war deine bisher beste Idee?
Das waren viele, tausende. Vielleicht, mich selbständig zu machen. Um noch mehr Ideen haben zu können.

Lisi Wieser empfiehlt folgende Literatur zum Thema:

  • Mark Beeman u.a.: Das Aha-Erlebnis: Wie plötzliche Einsichten entstehen und wie wir sie erfolgreich nutzen. Deutsche Verlagsanstalt, 2015. 320 Seiten. VLB
  • Frederic Laloux u.a.: Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Vahlen, 2015. 356 Seiten. VLB
  • Ed Catmull u.a.: Die Kreativitäts-AG: Wie man die unsichtbaren Kräfte überwindet, die echter Inspiration im Wege stehen. Carl Hanser, 2014. 376 Seiten. VLB

BildquelleDeath To The Stock Photo. Lizenziert: Free to use, but no distribution.

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